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Kategorie: Tourismus, Kultur & Sport, Pressemitteilung, 03.09.2021,

20 Jahre Ehrenbürgerschaft Paul Spiegel


Paul Spiegel bei der Verleihung des Ehrenbürgerrechts am 5. September 2001 | (c) Stadt Warendorf/ Fotostudio Kaup

Am 5. September 2001 stand das Warendorfer Theater am Wall nicht, wie sonst im regionalen, sondern im nationalen Fokus. Dr. h.c. Paul Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, wurde auf Beschluss des Rates der Stadt Warendorf durch den damaligen Bürgermeister Theo Dickgreber das Ehrenbürgerrecht verliehen. 

Paul Spiegel, Namensgeber des Berufskolleg Warendorf, war Sohn dieser Stadt. Er wurde am 31. Dezember 1937 als zweites Kind des Viehhändlers Hugo Spiegel und seiner Frau Regina Ruth Spiegel, geborene Weinberg, im Warendorfer Krankenhaus geboren. Gemeinsam mit seiner Schwester Rosa wuchs er im elterlichen Haus an der Schützenstraße 17 auf. 

Im Geburtsjahr Paul Spiegels blickte seine Familie bereits auf ein beschwerliches Leben zurück. Schon seit 1933 wurden auch in Warendorf Juden systematisch aus dem wirtschaftlichen Leben ausgegrenzt. Daher fiel es dem Vater nicht leicht, seine Familie zu ernähren. Doch wie seine Großeltern, Tanten und Onkel in die Staaten auszuwandern, dazu sah sein Vater keine Veranlassung. Er war sich sicher, dass es so schlimm nicht kommen würde und dass der Spuk ein baldiges Ende hätte. Doch die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die von den Nationalsozialisten verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt wurde, machte seinem Vater klar, dass in Deutschland kein Platz mehr für sie war. Hugo Spiegel wurde aus dem Haus gezerrt und von den Nazi-Schergen an der Ems brutal zusammengeschlagen. Damit nicht genug. Bis auf einen Warendorfer Arzt wollte den schwer Verletzten niemand ärztlich versorgen. Tags darauf wurde ihm der Gewerbeschein entzogen und damit die Basis für die wirtschaftliche Existenz der Familie. 

Hugo Spiegel suchte in Belgien eine neue Bleibe. Nachdem er dort eine kleine Wohnung angemietet hatte, konnte Ruth Spiegel Anfang 1939 mit dem 18 Monate alten Paul nach Brüssel folgen. Die Tochter Rosa hatte man schon vorher bei Verwandten in Appedoorn unterbringen können. In Belgien wähnte man sich zunächst in Sicherheit, doch nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien war die Gefahr schlagartig wieder da. 1940 wurde Hugo Spiegel in Brüssel verhaftet und deportiert. Zwei Jahre später auch Rosa Spiegel. Sie wurde im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

Paul Spiegel wuchs mit anderen jüdischen Kindern auf einem Bauernhof in der Nähe von Brüssel auf. Seine Mutter lebte in Brüssel. Nach dem Krieg wussten Paul Spiegel und seine Mutter nicht, ob und wo der Vater lebte. Das letzte jedoch, was für sie in Frage gekommen wäre, war eine Rückkehr nach Deutschland. Die mittlerweile in den Staaten lebenden Verwandten hatten Ruth Spiegel überredet, auch dort hin zu kommen. Die Passagen waren gelöst, eine Bürgschaft gestellt. Eine Woche vor Auslaufen des Schiffes in Antwerpen erreichte Ruth Spiegel im Sommer 1945 in Brüssel die Nachricht von ihrem Mann, sie möge zurück nach Warendorf kommen. Dorthin war Hugo Spiegel nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau ohne langes Zögern zurückgekehrt. Für ihn war Warendorf, trotz allem Erlebten sein Zuhause. 

So kehrte Ruth Spiegel gegen den erklärten Willen des damals achtjährigen Paul aus Belgien nach Warendorf zurück. Hier wohnte die Familie an der Oststraße 7. Zur Schule wollte Paul Spiegel zunächst nicht gehen. Warum auch. Er sprach kein Wort Deutsch. Nach einigen Wochen des beharrlichen sich Weigerns ging er dann doch zur Schule, lernte schnell die deutsche Sprache und fand Freunde. Der Neuanfang war nicht leicht, doch das Leben begann sich zu normalisieren. 1946 war der 10jährige Paul der Star in der Fußballszene. Nicht etwa, weil er ein besonders guter Spieler gewesen wäre, das war er nach eigenen Aussagen nie. Nein, er hatte von englischen Besatzungssoldaten einen Lederball bekommen, für Kinder in den Nachkriegsjahren der Luxus schlechthin. Familie Spiegel war in jeder Beziehung in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert. Auch bei dem heranwachsenden Paul setzte ein umfassendes Interesse für die Dinge ein, die um ihn herum passierten. 

1958, nach Abschluss der Mittleren Reife am Gymnasium Laurentianum, dem Besuch der höheren Handelsschule und vierjähriger Tätigkeit im elterlichen Betrieb, zog es Paul Spiegel nach Düsseldorf. Der Viehhandel war nicht “sein Ding”, wie er es in einem der vielen Gespräche im Vorfeld der Ehrenbürgerrechtsverleihung sagte. Da das Schreiben eher seinen Neigungen entsprach, begann er in Düsseldorf als Volontär bei der Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung. Schon bald wurde er als Redakteur übernommen. Daneben schrieb er für verschiedene Blätter, unter anderem für die Westfälische Rundschau. 

Im Anschluss war er eine Zeit lang hauptberuflicher Assistent des Zentralrates der Juden in Deutschland. Von 1974 bis 1986 war er Leiter der Stabsstelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Rheinischen Sparkassen- und Giroverband, bevor er 1986 eine selbständige Künstleragentur gründete. Hans Rosenthal, Rudi Carell, Mary Roos, Dagmar Berghoff, diese und viele andere Künstler wurden durch ihn betreut und vermittelt. 

Sein ehrenamtliches Engagement in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf nimmt seinen Anfang im Jahr 1967. Zunächst als Mitglied des Rates der Gemeinde, später als dessen Vorsitzender, daneben über 10 Jahre als Vorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit 1993 war Paul Spiegel einer der zwei stellvertretenden Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. 

Mit seiner Wahl zum Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland am 9. Januar 2000 wurde er in der Nachfolge von Ignaz Bubis zu einer bedeutenden Person der Zeitgeschichte. In engster Verbindung mit seiner Person stand das Bekenntnis zu den Grundwerten der Republik: Demokratie und der mit ihr verbundene Grundwertekanon, Toleranz, Humanität und Zivilcourage. Sein Einsatz als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland galt aufgrund seiner inneren Überzeugung, durch die Übernahme dieses Amtes jedoch in besonderem Maße, dem Eintreten für Toleranz und gegen rechte Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Er verkörperte dieses mit aller gebotenen Offenheit, Entschiedenheit und Zivilcourage wo immer Unrecht in unserem Land geschah. Bis zu seinem Tod am 30. April 2006 setzte er sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft für seine Überzeugungen ein. Eines seiner wesentlichen Anliegen war dabei die Aussöhnung zwischen Juden und Christen. Dieses Engagement verdient gerade über seinen Tod hinaus unsere höchste Beachtung und breiteste Unterstützung, unabhängig von religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung. 

Die Wahrung der Menschenrechte war eines der erklärten Ziele von Paul Spiegel. In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist die Aufgabe staatlicher Gewalt.” Pointiert fügte er in seiner Berliner Rede am 9. November 2000 anlässlich der Veranstaltung zum Gedenken an die Reichspogromnacht hinzu: “Die Würde des Menschen – aller Menschen – ist unantastbar, nicht nur die des mitteleuropäischen Christen.”  

Einundzwanzig Jahre nach seiner Berliner Rede sind mit zunehmender Tendenz antisemitische und fremdenfeindliche Ausschreitungen in unserer demokratischen Gesellschaft festzustellen. Ein erschreckendes Faktum, dass junge wie ältere Menschen in unserer Gesellschaft aus der Geschichte nicht gelernt haben. Die Benennung des Berufskollegs in Warendorf nach dem Ehrenbürger Paul Spiegel ist nicht nur äußeres Zeichen für die Erinnerung an den Menschen Paul Spiegel. Sie ist auch lebendiger Beweis dafür, dass die Grundwerte, für die Paul Spiegel im aller Vehemenz Zeit Lebens eintrat, von den nachwachsenden Generationen auch in Zukunft reflektiert und gelebt werden. Für die lebendige Erinnerung daran, dass jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in dieser Stadt gelebt und gewirkt haben, stehen in Warendorf der Jüdische Friedhof am Bentheimer Turm, die Gedenkstele an der Freckenhorster Straße, die Benennung der zum Jüdischen Friedhof führenden Straße nach Hugo Spiegel und nicht zuletzt der Vorplatz des Jüdischen Friedhof vor dem Münstertor. Er erinnert als Ort der Stille und des Gedenkens nicht nur an die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter dem nationalsozialistischen Terrorregime misshandelt, verschleppt und grausam ermordet wurden, er steht auch stellvertretend für jedes Unrecht, das durch die Missachtung der Menschenrechte verursacht wurde und wird. Dieser Platz steht sinnhaft damit auch als Denkmal an Paul Spiegel, den Mitinitiator dieses Projektes, den unerbittlichen Kämpfer für Toleranz und demokratische Werte, den Ehrenbürger, den Freund und Sohn dieser Stadt.